Die ärztliche Praxis ist nur Teil des Hilfesystems
Die Hilfen, die ein misshandeltes oder missbrauchtes Kind und dessen Familie benötigen, sind unter Umständen sehr differenziert und zeitintensiv. Sie können meist nicht von einer Person oder Einrichtung erbracht werden. Deshalb ist die ärztliche Praxis Teil eines Systems von Einrichtungen, die Hilfen anbieten.
In diesem Kontext sind folgende Institutionen wichtige Ansprechpartner:
Als staatliche Institutionen haben die Jugendämter den gesetzlichen Auftrag, bei Vorliegen einer Gefährdung den Schutz von Kindern sicher zu stellen und Hilfen für betroffene Kinder und ihre Eltern zu organisieren. Sie haben allen Hinweisen über eine (drohende) Gefährdung nachzugehen, sich entsprechende Informationen zu verschaffen und das Gefahrenpotential einzuschätzen. Jugendämter können betroffenen Kindern und Eltern einerseits Hilfen anbieten und andererseits ggf. eine Trennung der Täterin oder des Täters vom Opfer durchsetzen und z. B. eine Fremdunterbringung des Kindes einleiten. Wenn die Eltern keine Einwilligung dazu erteilen, kann das Jugendamt ein Kind vorübergehend "in Obhut nehmen" und den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitssorge oder des Sorgerechts insgesamt in die Wege leiten.
Ärzte können sich in Zweifelsfällen auch direkt an das Familiengericht wenden. Dieses entscheidet über Veränderungen oder Einschränkungen (von Teilen) des Sorgerechts. Es kann zudem Umgangskontakte beschränken oder ganz ausschließen und Wegweisungen, auch gegenüber Dritten erlassen. Das Familiengericht muss bei Kenntniserlangung eines entsprechenden Sachverhalts "von Amts wegen" ermitteln und den Sachverhalt aufklären.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es mehrere Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche, die Opfer sexueller Misshandlung wurden (siehe Adressen im Serviceteil). In den Interventionsstellen in Rostock und Schwerin gibt es ein Modellprojekt zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, die von häuslicher Gewalt mitbetroffen sind. Ziel ist es, den schwierigen Prozess der Bewältigung und Aufarbeitung des Erlebten zu begleiten sowie die eigenständige Interessenvertretung des Kindes im Interventionsprozess zu unterstützen. Diese Beratungsstellen beraten und unterstützen nicht nur die Betroffenen selbst, sondern stehen auch als Ansprechpartner für Fachkräfte anderer Professionen zur Verfügung.
Um Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt zu schützen, kooperiert die Kinder- und Jugendhilfe eng mit den Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der Schule. Dies geschieht, analog zur Suchtprävention, durch Informations- und Aufklärungsprojekte, Öffentlichkeitsarbeit und gezielte gruppenspezifische Angebote.
Die Angebote des Kinderschutzbundes sind von Ort zu Ort unterschiedlich gestaltet. Welche Ortsverbände eine Beratungsstelle vorhalten, kann beim Landesverband des Kinderschutzbundes erfragt werden (siehe Adressen im Serviceteil dieses Leitfadens). Grundsätzlich können z.B. die Einrichtungen des Kinderschutzbundes Auskunft über die vor Ort existierenden Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder geben.
Die Landesregierung hat eine Kinderschutzhotline eingerichtet. Bei Anzeichen auf eine Kindeswohlgefährdung können sich die Menschen - auf Wunsch auch anonym - rund um die Uhr und damit auch außerhalb der Dienstzeiten von Jugendämtern an diese Hotline wenden. Die Mitarbeiter der Hotline leiten eine Meldung unverzüglich an die für Kinder- und Jugendschutz zuständige Stelle weiter. Die Kinderschutzhotline ist unter der kostenfreien Telefonnummer 0800-1414007 zu erreichen.
Auch in Beratungsstellen ohne spezifisches Angebot zum Thema "Kindesmisshandlung" besteht grundsätzlich die Möglichkeit, betroffene Eltern zu beraten und zu unterstützen. Hier ist ebenfalls eine kollegiale Beratung möglich.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) übernimmt einen Part im Rahmen der Förderung der Kindergesundheit, u.a. im Rahmen von Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und des Gesundheitsschutzes in Kindertages- und Schuleinrichtungen.
In § 15 Abs. 2 des Gesetzes über den Öffentlichen Gesundheitsdienst - ÖGD Mecklenburg-Vorpommern ist geregelt, dass die Gesundheitsämter Säuglings-, Kinder- und Jugendberatung ergänzend zu vorhandenen Einrichtungen anbieten. Besonders gefährdete Säuglinge, Kinder und Jugendliche sollen aufgesucht werden, um ihnen oder ihren Personensorgeberechtigten Beratung anzubieten. Nach Absatz 2 führen die Gesundheitsämter bei Kindern vor der Einschulung sowie während der Schulzeit regelmäßig Untersuchungen durch. Diese beinhalten auch die Möglichkeit zur Durchführung ärztlicher Untersuchungen. Nach der Schulpflege-Verordnung-SchulGesPflVO M-V liegen diese Untersuchungen zeitlich vor der Einschulung, in der 4. und in der 8. Klasse. Ein zusätzliches Angebot der Untersuchung ein Jahr vor der Einschulung ist danach ebenfalls möglich.
Kommunikation und Kooperation mit anderen Einrichtungen
Effektive Hilfen können Ärzte organisieren, je besser sie über andere Einrichtungen informiert sind. Im Serviceteil dieses Leitfadens finden Sie eine Übersicht über spezielle Hilfeeinrichtungen und Behörden. Trotz knapper Zeit in den Praxen ist es eine sinnvolle Möglichkeit, interdisziplinäre Kooperationen zu entwickeln und zu fördern, sowie Fortbildungen und Arbeitskreise der beteiligten Fachinstitutionen und -personen auf lokaler bzw. regionaler Ebene zu nutzen.
Eigene Kontakte auf- und ausbauen
Sofern keine entsprechenden Arbeitskreise oder Kooperationstreffen in Ihrer näheren Umgebung eingerichtet sind, sollten Sie den Kontakt zu anderen Einrichtungen selbst aufbauen. Mit Einladungen anderer Professionen in Ihre Praxis kann auch Ihr Praxispersonal in die Thematik eingeführt und sensibilisiert werden. Eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema ist zu empfehlen. Hier sind insbesondere ärztliche Fortbildungsmaßnahmen und Literatur zu nennen. Im Anhang dieser Broschüre finden Sie eine Auswahl von Büchern, die Sie oder auch Betroffene detaillierter in das Thema einführen.
Wichtig ist ein dem Patientenalter gerechtes Untersuchungsverhalten. Die Symptomsuche sollte in unauffälliger Form erfolgen. Heben Sie immer auch das Positive der Untersuchung hervor. Bestätigen Sie dem Kind, dass es grundsätzlich gesund ist. Ziel ist es, dem Kind die Sicherheit zu vermitteln, dass es über seine Gewalterfahrungen frei sprechen kann.
Eine Orientierung und Hilfestellung für den Ablauf der Untersuchung sowie die Dokumentation geben Ihnen die Befundbögen im Downloadbereich.
Bei Verdacht auf Misshandlung das unbekleidete Kind untersuchen
Symptome, die auf körperliche Misshandlung deuten können, sind häufig nicht einfach zu bestimmen. So muss in jedem Fall das unbekleidete Kind untersucht werden. Es gibt mehrere Symptome, die den Verdacht auf Misshandlung sofort wecken sollten.
Stress-Symptome
Überängstliches Verhalten oder eine stark angespannte Bauchdecke in der Untersuchungssituation sollten an die Möglichkeit von Stress und Anspannung beim Kind und eine belastende Lebenssituation denken lassen.
Kriterien für Hämatome und Wunden auf der Haut
Hämatome und Hautwunden sind die Befunde, die in der täglichen Praxis am häufigsten im Zusammenhang mit Misshandlung vorkommen. Auf folgende Kriterien sollte geachtet werden: Lokalisation, Gruppierung, Formung und Mehrzeitigkeit. Bei 90% der Misshandlungsopfer werden Symptome der Haut (Hämatome, Striemen, Narben) an nicht exponierten Stellen (untypisch für Sturzverletzungen) und in verschiedenen Altersstadien (Verfärbungen und Verschorfungen) beobachtet.
Zwischen Verletzung und Misshandlung differenzieren
Dabei deuten Lokalisationen im Gesicht, am Gesäß, am Rücken, an den Oberarminnenseiten, im Brustbereich und auf dem Bauch eher auf Misshandlung hin. Typisch für Sturzverletzungen sind hingegen Lokalisationen an Handballen, Ellenbogen, Knie und Schienbein sowie am Kopf im Bereich der "Hutkrempenlinie" oder darunter.
Hinweise auf Schlaggegenstände
Gelegentlich sind diese Hämatome geformt und lassen auf einen Schlaggegenstand schließen. Einwirkungen von stockähnlichen Werkzeugen oder Gürteln können Doppelstriemen hinterlassen. Auch Kratz- und Bisswunden sind oft Hinweise auf Misshandlung. Bissverletzungen mit einem Abstand von mehr als 3 cm zwischen den abgezeichneten Eckzähnen deuten auf einen erwachsenen Täter hin und sollten an einen sexuellen Missbrauch denken lassen.
Subdurales Hämatom durch Schütteltrauma
Besonders schwerwiegende Folgen hat das "Schütteltrauma" der Säuglinge. Hierbei wird das Kind am Rumpf oder an den Armen festgehalten und geschüttelt. Dadurch schwingt der Kopf hin und her und es reißen feine Blutgefäße unter der harten Hirnhaut. Blutungen vor der Netzhaut oder Blutungen bei der Liquorpunktion (subarachnoidale Blutungen) müssen den Verdacht auf ein Schütteltrauma erwecken.
In der Akutphase kommt es nicht selten zu einer dramatischen Steigerung des intracraniellen Drucks, wobei das Kind bewusstlos wird und zu krampfen beginnt (Jacobi, 1995). Oftmals fehlen dabei äußerlich erkennbare Verletzungen.
Die Symptome des subduralen Hämatoms sind vielfältig. Akut kommt es zu Benommenheit, Schläfrigkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit sowie zu Erbrechen und zu Krampfanfällen. Zusätzlich können, müssen aber nicht zwingend, beim Schütteltrauma Griffmarken an Brustwand und Armen oder an den Knöcheln zu beobachten sein. Durch den Peitschenschlagmechanismus können sogar Wirbelkörperkompressionsfrakturen entstehen. Langfristig resultieren neurologische Abweichungen, Bewegungs- und Entwicklungsstörungen oder Anfallsleiden.
Nicht selten kommt zu dem Schütteln als pathologischem Mechanismus auch noch das Aufschlagen des Kopfes an einem Gegenstand hinzu, d.h. das Kind erleidet noch zusätzliche, oft mehrfache Hirnprellungen (Jacobi, 1995).
Epidurales Hämatom
Beim epiduralem Hämatom kommt es nach einigen Stunden oder wenigen Tagen zu Erbrechen, zunehmenden Bewusstseinsstörungen, neurologischen Ausfallserscheinungen und schließlich zu Bewusstlosigkeit. Eine Operation ist dann meist unumgänglich, um das Leben des Kindes zu retten.
Augenverletzungen
Unerklärliches plötzliches Schielen ist ein Symptom, das auf Misshandlung hinweisen kann. Ursache sind in diesem Fall Augenhintergrundverletzungen oder ein Hirnschaden. Selten auftretende mögliche Augenveränderungen sind Glaskörperblutungen im Anschluss an ein Schädelhirntrauma mit intrakranieller Blutung.
Feine flohstichartige (petechiale) Blutungen in den Augenbindehäuten und an den äußeren Lidhäuten können als Stauungsblutungen entstehen, wenn die Halsvenen beim Würgen oder Drosseln zugedrückt wurden, der arterielle Zufluss aber noch erfolgte. Flächenhafte Blutungen sind Folgen eines direkten Schlages auf das Auge.
Verbrennungen und Verbrühungen
Bei Verbrennungen und Verbrühungen lässt ein dem Entwicklungsstand des Kindes nicht entsprechendes Muster der Läsionen an Misshandlung denken. Unfallmäßige Verbrühungen entstehen, wenn ein Kleinkind heiße Flüssigkeit vom Tisch herunterzieht. In diesem Fall sind Hals, Brust, Schultern und Gesicht betroffen. Wenn ein Kind absichtlich in ein heißes Bad gesetzt wird, sind Gesäß und Hände gleichzeitig oder Hände und Füße gleichzeitig betroffen.
Dieses Verletzungsmuster kann nicht entstehen, wenn das Kind selbständig in die Badewanne steigt. Dann ist nur eine Hand oder ein Fuß betroffen. So sollte bei jeder Verbrühungsverletzung der genaue Hergang hinterfragt werden und der Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigt werden.
Kreisförmige Verbrennungen am Handteller, unter den Fußsohlen und am Bauch können durch Zigaretten verursacht sein. Große runde Verbrennungen am Gesäß entstehen auch dadurch, dass Kinder auf die heiße Herdplatte gesetzt werden.
Verletzungen des Skeletts auch ohne Markersymptome
Bei Skelettverletzungen ist zu beachten, dass äußere Schwellungen und Hautblutungen als Markersymptome häufig, aber nicht immer vorhanden sind. Wenn ein völlig ruhiges Kind immer wieder schreit, wenn es hochgenommen oder gefüttert wird, kann u. U. ein Rippenbruch vorliegen, der von außen nicht erkennbar ist. Dauerhafte Schonung von Extremitäten kann auf verdeckte Knochenbrüche hinweisen.
Frakturen
Polytope Brüche verschiedenen Alters, sowie periostale Reaktionen in unterschiedlichen Heilungsstadien deuten fast immer auf Misshandlungen hin. Besonders betroffen sind meistens Rippen und lange Röhrenknochen. Sehr typisch sind Absprengungen von Metaphysenkanten am Ende der langen Röhrenknochen und Epiphysenablösungen bei normaler Knochenstruktur, wenn ein adäquates Trauma in der Anamnese fehlt (sogenanntes "Battered-Child-Syndrom"). Hier können die Sonographie und die Sklelettszintigraphie unter Umständen wertvolle diagnostische Hilfe leisten.
Schädelfrakturen, die über mehrere Nähte verlaufen, Impressions- oder Trümmerfrakturen ohne entsprechende Vorgeschichte und wachsende Frakturen müssen immer den Verdacht auf eine Misshandlung aussprechen lassen. Wenn zu solchen Schädelfrakturen noch verschiedene alte und verschieden lokalisierte Hämatome am übrigen Körper und/oder ältere Frakturen anderer Skelettanteile hinzukommen, muss die Diagnose der Kindesmisshandlung ausgesprochen werden, auch wenn dies von den Eltern zehnmal in verschiedenen Versionen verneint werden sollte (Jacobi, 1995).
Das Auftreten von Knochenbrüchen bei Kindern von einem Lebensalter unter drei Jahren muss als hochverdächtig hinsichtlich einer möglichen Kindesmisshandlung angesehen werden (Dalton, 1990).
Röntgenaufnahmen wiederholen
Die Verkalkung an der Bruchstelle setzt innerhalb der ersten Woche nach der Verletzung ein und ist danach auf dem Röntgenbild nachweisbar. Daher ist es wichtig, bei dringendem Verdacht auf Misshandlung die Röntgenaufnahme nach ein bis zwei Wochen zu wiederholen. Computertomographien und Röntgenuntersuchungen (evtl. auch eine Skelettszintigraphie) sind vor allem bei Kindern unter drei Jahren wichtig, um überhaupt Misshandlungen erkennen zu können. Der behandelnde Arzt muss jedoch selbst im Einzelfall entscheiden, wann die Verdachtsmomente sich so verdichten, dass eine Röntgenaufnahme angezeigt ist.
Innere Verletzungen
Bei Misshandlung können innere Verletzungen entstehen, die durch stumpfe Schläge auf den Leib verursacht werden. Innere Verletzungen sind selten und schwer zu erkennen, weil meist keinerlei Hautbefunde auftreten. Andererseits können sie sehr gefährlich werden. Sie sind die zweithäufigste Todesursache bei körperlicher Misshandlung.
Im einzelnen kommen vor:
- Magen- oder Dünndarmperforationen
- Einrisse der Gekrösewurzel
- Leber-, Nieren-, Milz- und Bauchspeicheldrüseneinrisse
- Lungenverletzungen, Hämatothorax und Hämatoperikard
Darmverletzungen
Anhaltendes Erbrechen, Schmerzen, ein aufgetriebener Bauch, Ausbleiben der Darmgeräusche, Störungen des Stuhlgangs, Entzündungen des Bauchfells und Schock können durch Darmverletzungen hervorgerufen sein.
Vergiftungen
An Vergiftungen ist bei folgenden Symptomen zu denken: Müdigkeit, Apathie, "Abwesenheit", Gangunsicherheit und Bewusstlosigkeit. Vergiftungen können bei Säuglingen und Kleinkindern aus folgenden Gründen vorkommen:
- Überdosierung eines verordneten Schlaf- oder Beruhigungsmittels (das Kind schläft nicht, das Kind ist unruhig). Eventuell wurden Beruhigungsmittel auch verabreicht, um das Kind ruhig zu stellen, damit die Betreuungsperson ungestört ist bzw. anderen Aktivitäten nachgehen kann.
- Einnahme eines ungesicherten Medikaments durch Kleinkinder (Aufbewahrung von Medikamenten und Sicherungsmaßnahmen diskutieren).
- Medikamentengabe als Tötungsversuch bei erweitertem Selbstmordversuch oder im Rahmen eines Münchhausen-Stellvertretersyndrom (Münchhausen-by-proxy-Syndrom).
- Beim Verdacht auf Vergiftung sollte unbedingt eine Klinikeinweisung erfolgen (Drogenscreening und Blutalkoholuntersuchung).
Untersuchung bei Verdacht auf sexuelle Gewalt
Bei der Untersuchung sollte beachtet werden, dass das betroffene Kind eine körperliche Untersuchung als einen weiteren Übergriff erleben kann. Daher sollte die Untersuchung äußerst behutsam durchgeführt werden. Dem Kind sollen die Untersuchungsschritte erklärt werden. Der Arzt sollte offen über das Thema sprechen können und sich nicht überängstlich verhalten. Weigert sich ein Kind, so sollte es Zeit bekommen, mit der Situation vertrauter zu werden.
Somatische Untersuchung
Die somatische Untersuchung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch setzt sich zusammen aus der Erhebung eines Allgemeinstatus und eines Genitalstatus. Bei der Allgemeinuntersuchung ist ein pädiatrischer Status enthalten, bei dem insbesondere die Körperteile, die in sexuelle Aktivitäten oft einbezogen sind, genau untersucht werden, wie z. B. Brustbereich, Mund, Gesäß, Oberschenkelinnenseite.
Wenn der Arzt mit den Besonderheiten der genitalen Befunderhebung vertraut ist, kann er einen Genitalstatus erheben, der vorwiegend aus einer genauen Inspektion der Genital- und Analregion besteht.
Bei der Inspektion werden neben dem Gesamtaspekt des Genitalbereiches, die Klitoris, große und kleine Labien, Vulvaränder, Urethralbereich, Hymen in allen Anteilen sowie die Inguinalregion und der Anus beurteilt. Mit Hilfe der Separations- oder Traktionsmethode kann die Weite und Konfiguration des Introitus vaginae, die distale Vagina, die Fossa navicularis und die hintere Kommissur untersucht werden. Je nach Befund und Anamnese werden zusätzliche Untersuchungen erforderlich, z. B. mikrobiologische oder virologische Kulturen, serologische Untersuchungen oder der Nachweis von Sperma.
Eine gynäkologische Untersuchung, d.h. eine instrumentelle Untersuchung mit Vaginoskop oder Spekulum soll nicht routinemäßig durchgeführt werden, sondern in Abhängigkeit von der Anamnese, dem Befund bei der Inspektion und dem Alter der Patientin. Bei äußeren Verletzungen, Blutungen oder auch rezidivierenden Genitalinfektionen ist eine Untersuchung immer erforderlich.
Kindergynäkologische Untersuchung
Wenn sich der Arzt durch eine exakte kindergynäkologische Untersuchung überfordert fühlt, sollte eine kindergynäkologische Konsiliaruntersuchung in einer spezialisierten Klinik oder durch einen Rechtsmediziner mit Erfahrung in Befunderhebung und forensischer Bewertung angestrebt werden.
Liegt der vermutete sexuelle Übergriff mehr als 48 - 72 Stunden zurück und ist bei der Genitalinspektion keine Verletzung nachweisbar, können forensische Überlegungen vorerst in den Hintergrund treten und eine kindergynäkologische Konsiliaruntersuchung sorgfältig geplant werden. Hat ein Übergriff aber in den letzten 48 - 72 Stunden stattgefunden, so muss die Untersuchung unverzüglich erfolgen, um beweiserhebliche Hinweise festhalten zu können.
Körperlicher Befund bei sexuellem Missbrauch
Beim sexuellen Missbrauch gibt es kaum eindeutige Befunde. Als spezifische Symptome gelten alle Verletzungen im Anogenitalbereich ohne plausible Anamnese. Dazu gehören Hämatome, Quetschungen, Striemen, Einrisse und Bisswunden. Häufig entstehen auch ein weiter Eingang der Vagina bzw. Rötung, Einrisse oder venöse Stauung im Analbereich.
Im Zusammenhang mit dem Verdacht bzw. der Anschuldigung des sexuellen Kindermissbrauchs bleiben allerdings auch immer wieder Beweisfragen ungeklärt. Beispielsweise ist aus diversen Literaturangaben bekannt, dass keineswegs jedes Einführen eines männlichen Gliedes bzw. intravaginale Manipulationen zwangsläufig mit dem Zerreißen des Jungfernhäutchen oder mit sichtbaren Verletzungen im Scheidenbereich einhergehen (Lockemann/Püschel, 1999).
Die Intaktheit des Hymens schließt die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs (auch mit Einführen des Penis bei einem jungen Mädchen) nicht aus. Sehr schwierig ist auch die Beurteilung von alten Vernarbungen des Hymens, bei denen regelmäßig die Differenzialdiagnose einer früheren unfallmäßigen Pfählungsverletzung in die Diskussion gebracht wird.
Sexuell übertragbare Krankheiten als Hinweis auf sexuellen Missbrauch
Sexuell übertragbare Krankheiten wie z. B. Gonorrhoe oder Condylomata accuminata vor der Geschlechtsreife des Kindes sind mit größter Wahrscheinlichkeit Folge von Missbrauch. Auch bei einer Schwangerschaft in der Frühpubertät muss man immer an die Folge eines Missbrauchs denken. Daneben gibt es noch unspezifische Symptome, die ebenfalls beim Missbrauch entstehen können. Dazu zählen rezidivierende Harnwegsinfekte, vaginale Infektionen, sekundäre Enuresis und Enkopresis.
Sexueller Missbrauch ist sehr häufig durch eine körperliche Untersuchung nicht eindeutig diagnostizierbar. Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch sollten sich der behandelnde Arzt falls erforderlich von erfahrenen Kollegen oder multidisziplinären Einrichtungen beraten lassen, damit die Abklärung im Sinne des Kindes verlaufen kann und Schutz vor weiteren Übergriffen gewährleistet ist. Dadurch kann das Kind vor einer Retraumatisierung durch überstürztes, wiederholtes, falsches oder unüberlegtes Handeln geschützt werden.