Auswirkungen von Gewalt
Das Erleben direkter und indirekter Gewalt im nahen Umfeld hat immer Auswirkungen und Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Gewalt erleben bedeutet für jeden Menschen einen schweren Eingriff in das Gefühl eigener Sicherheit und ist häufig mit massiven Folgen sowohl für die körperliche als auch psychische Gesundheit verbunden. Kinder und Jugendliche erleben die Gewalt als besonders bedrohlich und existenziell, da sie in ihrer Entwicklung auf Schutz und Geborgenheit durch Erwachsene angewiesen sind. Die Folgen sind umso gravierender, wenn die Gewalt von nahe stehenden Personen ausgeht. Diese Erfahrungen können schwere seelische Schäden und Krankheitsbilder hervorrufen (z.B. Posttraumatische Belastungsstörung, Persönlichkeitsstörungen).
Unmittelbare Reaktionen:
- Schockreaktionen, Erstarrung, Nichtansprechbarkeit
- Angst, Panik, Schreien
- Rufen nach der Mutter oder dem Vater
- langes Weinen
- Anklammern
- Abwehr, Um-sich-Schlagen, Verstecken
- Verwirrtheit
Mittel- und langfristige Auswirkungen:
- Rückzug, Isolation
- Verlust von Urvertrauen/innerer Zuversicht
- Verlust von Respekt und Achtung vor Mutter und Vater
- Antriebslosigkeit, Spielunlust
- depressive Verstimmung
- hochgradige Furcht
- Klammern bei der Mutter oder der Betreuungsperson
- Abwehr von Zuwendung
- Stagnation der Entwicklung
- Regression, d.h. Rückfall in eine frühere Entwicklungsstufe (z.B. Einnässen, Babysprache)
- Schlafstörungen, Schulversagen, Konzentrationsstörungen
- Schulschwänzen
- geringes Selbstwertgefühl/ Selbstbewusstsein
- Gewaltverhalten, erhöhte Aggressivität
- besonders angepasstes und "braves" Verhalten
- selbstschädigendes Verhalten (Essstörungen, Drogenmissbrauch)
- Selbstverletzung, Suizidgefahr
Langzeitfolgen und dauerhafte Schädigung:
- schwere psychosomatische Leiden
- Zerstörung des positiven Lebensgefühls
- Verachtung des eigenen Geschlechts
- Selbstverachtung
- Ablehnung sozialer Beziehungen
- Bindungsangst
- Wiederholung erlebter Beziehungsmuster
- Rechtfertigung und Leugnung des Geschehens
- Suizid
- Geschlechtsspezifische Auswirkungen
Häufiger bei Mädchen beobachtet:
- Unsicherheit
- Rückzug
- Selbstschädigung, Selbstverletzung
- Angst
- Kontaktvermeidung
Häufiger bei Jungen beobachtet:
- Akzeptanz von Gewalt
- Dominanzverhalten
- Abwertung von und Verächtlichkeit gegenüber Mädchen und Frauen
- sexuelle Übergriffe (verbal und tätlich)
- erhöhte Aggressivität
- Gewaltverhalten und Bedrohungsrituale
Durch Gewalt gekennzeichnete Kindheitserfahrungen beeinflussen das Erwachsenenleben
Das Erleben von Gewalt im Elternhaus hat auch Auswirkungen auf das Erwachsenenleben der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Kindheitserfahrungen beeinflussen im späteren Leben die Partnerwahl und es kann zur Wiederholung des in der Herkunftsfamilie erlernten Beziehungsmusters kommen. So stellt die erste für Deutschland repräsentative Studie fest, dass Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern miterlebt haben, mehr als doppelt so häufig Gewalt durch ihren (Ex-)Partner erlebt haben, als Frauen, die keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern miterlebt haben (Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend, 2004 ).
Gewaltbegünstigende Faktoren müssen immer in einem übergreifenden Rahmen betrachtet werden, wobei sie im gesellschaftlichen, sozialen, familiären und persönlichen Bereich auch ohne Auftreten von Kindesmisshandlung ganz allgemein die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stark beeinträchtigen können. Die folgenden Risikofaktoren, die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche begünstigen können, sind ausschließlich als Hinweisliste zu verstehen. Es kann keine Aussage darüber getroffen werden, inwieweit diese Faktoren im Einzelfall überhaupt oder aber mit welchem Gewicht zu Kindesmisshandlung beitragen können (vgl. Deegener/Körner, 2006).
Untersuchungen haben ergeben, dass folgende Faktoren das Risiko von Kindesmisshandlung erhöhen können - und zwar insbesondere dann, wenn sie mehrfach auftreten:
Mögliche Merkmale der Eltern:
- ungewollte Schwangerschaft
- große Kinderzahl
- frühe Mutterschaft
- Erziehungsstil geprägt durch Drohungen, Missbilligung, Anschreien
- eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit
- Alkohol- und Drogenprobleme
- Psychische Störungen
- misshandelnde Eltern sind häufig depressiv
- negative Befindlichkeiten wie erhöhte Ängstlichkeit, emotionale Verstimmung sowie erhöhte Erregbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, Reizbarkeit verbunden mit Impulskontroll-Störungen, Stress und das Gefühl der Überbeanspruchung
- überhöhte Erwartungen an die Kinder
- Befürwortung körperlicher Strafen
Mögliche Merkmale des Kindes:
- geringes Körpergewicht des Kindes oder starkes Übergewicht
- Auffälligkeiten in der körperlichen Entwicklung
- gesundheitliche Probleme, Entwicklungsverzögerungen
- Verhaltensprobleme
Mögliche Merkmale des sozialen Umfeldes:
- geringe finanzielle Ressourcen
- Arbeitslosigkeit bei Männern
- Wohngegend und Nachbarschaft mit hoher Gewalt- und Armuts-rate
- soziale Isolation, wenig Kontakte zu Verwandten
- wenig soziale Unterstützung
Mögliche kulturelle und gesellschaftliche Faktoren:
- Erziehungseinstellungen und -praktiken
- gesellschaftliche Verbreitung von Gewalt
Mögliche Faktoren, die insbesondere sexuelle Gewalt fördern, sind:
- Gleichsetzung von Männlichkeit mit Macht, Kontrolle und Dominanz
- sexuelle Aktivität als Gradmesser von Männlichkeit und psycho-sozialer Potenz
- Sexualisierung von Beziehungen, von Bedürfnissen und von Aggressionen
- Abwertung des weiblichen Geschlechts
- Verdrängung der Gefühlswelt
Die einzelnen Risikofaktoren dienen nur als Hinweisliste. Entscheidend ist auch, was die Beteiligten für Fähigkeiten und Kompetenzen mitbringen, die für das Gelingen oder Scheitern der Bewältigungsversuche äußerer Belastungen grundlegend sind. Dabei kann die Lebensgeschichte der Eltern mit ihren sozialen und emotionalen Erfahrungen in der eigenen Kindheit eine ausschlaggebende Rolle spielen.
Als Ärzte, Zahnärzte oder Psychotherapeuten sind Sie grundsätzlich und damit eben nicht ausnahmslos an Schweigepflicht und Datenschutz gebunden. Die Rechte des Kindes und anderer Familienmitglieder werden damit im Grundsatz geschützt. Bei einem Verdacht auf körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässigung liegt der Ausnahmefall vor und Sie können die Schweigepflicht durchbrechen zum Wohle des Kindes.
So kann die Misshandlung vom Kind selbst an Sie herangetragen werden, so dass Sie mit dessen Einverständnis und in Absprache mit ihm handeln. Ebenfalls sind Sie von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden, wenn die Annahme berechtigt ist, dass Sie von einer Einwilligung ausgehen können. Eine Einwilligungsfähigkeit kann in der Regel bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren angenommen werden. Sie sollten sich von ihnen eine schriftliche Einwilligungserklärung aushändigen lassen. Die Einwilligungsfähigkeit von Kindern bis 14 Jahren hängt von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere von deren Einsichtsfähigkeit ab. Bei der mutmaßlichen Einwilligung dürfen Sie nur im vermeintlichen Interesse und Einverständnis des betroffenen Kindes handeln. Je jünger das Kind ist, desto seltener dürfte dieser Fall in der Praxis vorliegen.
Rechtfertigender Notstand bei Abwendung einer Gefahr
Noch wichtiger für Ihre Praxis ist, dass auch ohne Einwilligung Informationen weitergegeben werden können, wenn ein "rechtfertigender Notstand" nach § 34 StGB vorliegt. Danach handeln Sie nicht rechtswidrig, wenn die Gefahr für Gesundheit und Leben des Kindes so groß ist, dass eine Abwendung dieser Gefahr schwerer wiegt als die Einhaltung der Schweigepflicht. Dies ist in der Regel bei Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für das Kind der Fall.
§ 34 Rechtfertigender Notstand: Wer in einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben
eine Tat begeht, um die Gefahr
von einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das Beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, wenn die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Nach erschütternden Fällen von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, bei denen Kinder zu Tode gekommen sind, ist der Kinderschutz nach § 8a SGB VIII neu geregelt und präzisiert worden. Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung ist nach § 8a SGB VIII in besonderer Weise zu erfüllen (siehe hierzu den Gesetzestext in Kap. 6). Nach dem Gesetz stellen die Jugendämter in Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten sicher, dass diese den Schutzauftrag wahrnehmen und mit erfahrenen Fachkräften zusammenarbeiten. Dazu gehören auch Regelungen über die Frage, wie in Verdachtsfällen Gefährdungseinschätzungen vorgenommen und Schutzmaßnahmen für das Kind organisiert werden sollen.
Haben Sie anlässlich der Behandlung eines Kindes Kenntnis von Verletzungen, die auf Misshandlung, Missbrauch oder schwerwiegende Vernachlässigung hindeuten, sollten Sie sich an eine im Serviceteil genannte Beratungsstelle oder an das örtliche Jugendamt wenden. Dort gibt es erfahrene Fachkräfte, die Ihnen bei einer Einschätzung und ggf. beim weiteren Vorgehen zur Seite stehen und den Kindern helfen können.
Mit anderen Institutionen kooperieren
Es ist Aufgabe des Jugendamtes und der Allgemeinen Sozialen Dienste, einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nachzugehen und die Misshandlung zu stoppen. Die Interventionsmöglichkeiten dieser Einrichtungen sind stets hilfeorientiert und sehr vielfältig. Hilfen sollen, soweit möglich, unter Beteiligung der Eltern und Kinder entwickelt werden, um damit den Schutz von Kindern in ihren Familien sicherzustellen. Die Palette reicht von präventiven Hilfen über ambulante (anonyme) Beratung und Therapie bis zu langfristigen und stationären Maßnahmen.
Vorübergehende Inobhutnahme als sofortige Hilfe
In Fällen einer akuten Gefährdung ist das Jugendamt bzw. der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) gemäß § 42 des Sozialgesetzbuchs VIII "Kinder- und Jugendhilfe" berechtigt und verpflichtet, Kinder und Jugendliche in Obhut zu nehmen. Zur Inobhutnahme ist auch der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) berechtigt, der auch abends, an Wochenenden und Feiertagen zur Verfügung steht.
Einschalten des Familiengerichts
Sie können u. a. das Familiengericht einschalten. Dort kann eine Sorgerechtseinschränkung oder ein Sorgerechtsentzug erwirkt werden, wenn anderweitig der Schutz nicht sichergestellt werden kann. Das Familiengericht kann auch ein Umgangs- und Kontaktverbot für den mutmaßlichen Täter aussprechen.
Bei Information dieser Institutionen bedenken Sie, dass personenbezogene Daten nur bei Vorliegen einer Einwilligung oder eines "rechtfertigenden Notstandes" übermittelt werden dürfen. Andernfalls dürfen Sie nur anonymisierte Daten weitergeben. Dies soll Sie jedoch nicht daran hindern, mit dem Jugendamtmitarbeiter oder Familienrichter in Kontakt zu treten und das weitere Vorgehen abzusprechen.
Einschalten der Polizei
Die Polizei ist eine für die Abwehr und Verhütung von Gefahren zuständige Behörde. Auf diesem Gebiet wird sie entweder subsidiär - hilfsweise - für andere eigentlich zuständige Behörden, z. B. bei deren Nichterreichbarkeit oder bei besonderer Eilbedürftigkeit, wie z. B. auch an Stelle des Jugendamtes, tätig. Darüber hinaus wird sie auch originär in den Fällen Gefahren abwehrend tätig, wo es ihre ureigenste Aufgabe ist, z. B. wenn es um die Verhütung von Straftaten geht. Die Vernachlässigung von Kindern, die Kindesmisshandlung, der sexuelle Missbrauch von Kindern sind Straftaten, die es zu verhüten gilt.
Zudem ist die Polizei auch Strafverfolgungsbehörde, die nach dem so genannten Legalitätsprinzip gesetzlich verpflichtet ist, bei allen Straftaten, von denen sie Kenntnis erlangt, die erforderlichen Ermittlungen aufzunehmen.
Vernachlässigung, Misshandlung und Sexueller Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen im StGB
Der Gesetzgeber stellt die Misshandlung von Kindern, und zwar die Vernachlässigung, den sexuellen Missbrauch und die körperliche Gewalt unter Strafe. Die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht, zu der auch die Vernachlässigung von Kindern zählt, kann gemäß § 171 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden.
Bei der Misshandlung von Schutzbefohlenen, zu denen insbesondere Kinder zählen, beträgt die Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren, in besonders schwerwiegenden Fällen beträgt die Mindestfreiheitsstrafe 1 Jahr.
Für den sexuellen Missbrauch bestehen mehrere Paragraphen, die meisten Anklagen aber kommen aufgrund von § 174 StGB (sexueller Missbrauch an Schutzbefohlenen, Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren) und § 176 (sexueller Missbrauch an Kindern, Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren) zustande. Diese beiden Paragraphen betreffen Mädchen und Jungen unter 14 Jahren. Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren sind durch den § 182 StGB (sexueller Missbrauch Jugendlicher, Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren) geschützt. Wird eine Person (Kind, Mann oder Frau) durch Gewalt oder Drohung zu sexuellen Handlungen gezwungen, oder ist das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert, so kann auch die Strafvorschrift der sexuellen Nötigung (Vergewaltigung, Mindestfreiheitsstrafe 1 Jahr) gemäß § 177 StGB zur Anwendung kommen.
Es gibt keine Anzeigepflicht bei Verdacht auf die Vernachlässigung, Misshandlung oder den Missbrauch von Kindern. Je nach Schwere der Tathandlung und der akuten Gefahr der Wiederholung sollte der Arzt unter sorgfältiger Rechtsgüterabwägung entscheiden, ob er den Sachverhalt zur Anzeige bringt. In jedem Fall hat der Arzt jedoch unabhängig von jeder Anzeige oder Nichtanzeige in eigener Verantwortlichkeit abzuwägen, wie er persönlich dazu beizutragen hat, die Gefahren vom betroffenen Kind, sowie anderen Kindern mit denen der Täter in Kontakt kommt, abzuwenden.
Eine Konsultation mit anderen Institutionen, z.B. einem im Kinderschutz erfahrenen Rechtsanwalt, ist oft hilfreich und angebracht. Häufig kann aber nur im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens unter Ausnutzung der strafprozessualen Maßnahmen dem Kind ausreichend geholfen werden. Bei Vorliegen von Haftgründen (z.B. Wiederholungsgefahr, Verdunklungsgefahr) kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft das zuständige Amtsgericht Haftbefehl gegen den Täter erlassen, so dass nicht das Kind in Obhut genommen werden muss.
In Mecklenburg-Vorpommern
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es in jeder der fünf Kriminalpolizeiinspektionen ein Fachkommissariat für spezielle Kapitaldelikte, wo schwere Kindesmisshandlungen und alle Sexualdelikte bearbeitet werden. Nach Anzeigenerstattung und Abschluss der Ermittlungen entscheidet die Staatsanwaltschaft oder das Gericht über den Ausgang des Verfahrens. Ansonsten werden die Vernachlässigung und die Misshandlung von Kindern von den örtlich zuständigen Kriminalkommissariaten bearbeitet.