In der ärztlichen Versorgung steht die medizinische Betreuung des Kindes im Vordergrund. Daher ist das ärztliche Handeln primär durch die medizinischen Hilfen motiviert, die dem Kind gegeben werden.
Nicht in Aktionismus verfallen
Sie werden immer parteilich für das Kind eintreten. Deshalb ist das Wohlergehen des Kindes besonders zu berücksichtigen. Dieses Wohl ist aber nicht unbedingt durch die sofortige Herausnahme des Kindes aus seiner Familie herzustellen. Auch wenn Gewalt in der Familie oder in der näheren Umgebung ausgeübt wird, kann dennoch ein Verbleib des Kindes in seinem Umfeld der geringere Schaden sein. Angemessene Hilfe kann deshalb in vielen Fällen - vor allem, wenn keine akute Gefährdung des Kindes vorliegt - darin bestehen, Mütter und Väter bei ihren Erziehungsaufgaben professionell zu unterstützen. Ärzte können Eltern auf geeignete Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen vor Ort aufmerksam machen und ggf. den Kontakt zu diesen Institutionen herstellen (Interventionsstellen, Erziehungsberatungsstellen, Frühförderstellen, Kinderschutzbund, Familienbildungsstätten; Mütterberatungen, Familienhebammen, Elterntrainer - entsprechende Hilfen finden Sie im Serviceteil dieser Website).
Beratungsstellen und Kinderschutzeinrichtungen werden in der Regel nur dann tätig, wenn sich betroffene Eltern eigeninitiativ an sie wenden. Im Unterschied dazu haben Jugendämter zusätzlich die Möglichkeit und Verpflichtung, auf Eltern zuzugehen. In allen Fällen, in denen die Gefahr oder der Verdacht auf eine Gefährdung des Kindes vorliegt, ist gemäß § 8a SGB VIII das Jugendamt für die Einschätzung des Risikos und die Organisation des Hilfeprozesses zuständig:
§ 8a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung: (1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltpunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen.
Ärzte sollten sich deshalb in Zweifelsfällen immer an das örtliche Jugendamt wenden und dort fachliche Unterstützung bei der Abklärung des Verdachts einholen und Möglichkeiten des Umgangs mit der betreffenden Familie besprechen. Um eine reibungslose Zusammenarbeit in akuten Problemsituationen sicherzustellen, ist es sinnvoll, die Rahmenbedingungen einer solchen Kooperation sowie nach Möglichkeit auch die Ansprechpartner im Jugendamt fallunabhängig zu klären. Klare Absprachen erleichtern den Kontakt und die Problemlösung in Akutsituationen.
Hinweise an das Jugendamt oder andere Institutionen und eventuelle Absprachen sollten Sie auf jeden Fall immer für sich dokumentieren. In Zweifelsfällen lassen Sie Ihre Dokumentation dem örtlich zuständigen Familiengericht zukommen.
Eigene Bewertung und Einstellung klären
Bleiben Sie in einem Fall von Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch dem Kind gegenüber unbefangen. Entsetzte oder empörte Äußerungen wie "Das ist ja schrecklich, was dir angetan wurde!" helfen nicht weiter. Geben Sie dem Kind ein Gefühl der Sicherheit. Auch das Verhalten gegenüber der Begleitperson sollte freundlich sein. Vorwürfe, Vermutungen und Vorurteile gegenüber Erziehungsberechtigten oder ein Dramatisieren des Falles helfen nicht weiter.
Sexualität wird in unserer Gesellschaft öffentlich thematisiert. Diese Öffentlichkeit führt aber nicht unbedingt zu Offenheit. Sexualität ist auch weiterhin eine intime und individuelle Angelegenheit. Die persönliche Konfrontation mit Fällen von sexuellem Missbrauch wird damit auch durch die eigene Einstellung zum Thema Sexualität und durch die Fähigkeit bestimmt, über sexuelle Sachverhalte reden zu können.
Eigene Möglichkeiten und Grenzen kennen
Wenn in einer Familie Gewalt ausgeübt wurde, können an die Arztpraxis hohe Erwartungen gerichtet werden. Insbesondere dann, wenn von Ihnen das Problem direkt angesprochen wurde. Die Bitte um Hilfe kann sowohl vom Kind als auch von der begleitenden Person ausgehen. Hier müssen Sie Ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen genau kennen. Das Vertrauen, das Ihnen entgegengebracht wird, darf nicht durch Versprechen, die Sie später nicht einhalten können, zerstört werden.
Zusammenarbeit mit anderen Hilfeeinrichtungen suchen
Es wird in der Regel nicht möglich sein, den Fall allein zu behandeln und somit das Problem des Kindes und der Familie zu lösen, insbesondere nicht bei Fällen innerfamiliären sexuellen Missbrauchs. Die Zusammenarbeit mit anderen Hilfeeinrichtungen ist erforderlich. Den Ärzten kommt dabei die Rolle von Initiatoren zu. Auch wenn der Fall von anderen Professionen versorgt und gegebenenfalls koordiniert wird, sollten Sie weiterhin Ihre Kompetenz und Ihr Verständnis für das Kind und die Familie einbringen.